Zu Einsteins letzter Vorlesung -
Beobachtbarkeit, Realitaet und Vollstaendigkeit in Quanten- und Relativitaetstheorie

Von Wilfried Schroeder und Hans Juergen Treder

I. Einsteins Vorlesung

In der deutschen Ausgabe von "Albert Einstein - his Influence on Physics, Philosophy and Politics" (ed. P. C. AICHELBURG, and R. U. SEXL), Braunschweig 1979, fehlen beim Nachdruck von "Last Lecture of Albert Einstein" (pp. 207-211) eds "Albert Einsteins letzte Vorlesung" (pp. 217-221), also EINSTEINS Princetoner Vorlesung vorn 14. IV. 1954, drei Absaetze, die aus dem von J. A. WHEELER aufgezeichneten englischen Text nicht uebertragen wurden. Es sind dies der letzte Absatz auf p. 207 und die beiden ersten Absaetze auf p. 208. Hierdurch wird der Zusammenhang von EINSTEINS Gedanken zerrissen.

Es ist zuzugeben, dass diese drei Absaetze ohne ihre Vorgeschichte schwer verstaendlich sind. EINSTEIN sprach hier unter dem Eindruck seiner Diskussionen mit M. BORN und W. PAULI (von November 1953 bis April 1954) ueber seine Auffassung zur Vollstaendigkeit der Quantenmechanik. Auf Grund seines Realitaetsbegriffes bezog sich EINSTEIN hierbei z.T. fast woertlich auf Argumente, die er BORN und PAULI vorgetragen hatte, und uebernahm besonders Gegenformulierungen PAULIS. Von PAUILI stammt die Wendung vom „Ableuchten des Raumes mit einer Blendlaterne“ und die „Feststellung: das Teilchen ist da - wird dann als ausserhalb der Naturgesetze stehende Schoepfung aufgefasst, wenn sie auch vom Beobachter unbeeinflussbar ist. Nur ueber die Statistik dieser Beobachtungsakte sagen die Naturgesetze etwas aus.“

M. BORN postulierte gegen EINSTEI.NS im zweiten Absatz auf p. 207 behandelte Materiewellen, die EINSTEIN zunaechst in seinem Beitrag in "Scientific papers: presented to MAX BORN" (Edinburgh 1953, pp. 33-46) angegeben hatte, fuer alle makroskopischen Koerper "enge Loesungen" der Schroedinger-Gleichung1). Dies lehnten sowohl EINSTEIN als auch PAULI als den Prinzipien der Quantenmechanik widersprechend ab. Aber BORN und PAULI erklaerten beide EINSTEINS Realitaetsbegriff fuer "metaphysisch"2).

Gegenueber EINSTEINS "einheitlicher Feldtheorie" bemerkte W. PAULI (1954) deswegen: „Eine befriedigende Theorie muesste unseres Erachtens das Feld und den zu seiner Messung dienenden Probekoerper als komplementaere Gegensaetze aufzufassen erlauben.“ (s.u.)

Es folgt nun ein Uebersetzungsversuch fuer die drei ausgelassenen Absaetze. (Natuerlich ist bei solchem schwierigen Text jede Translation auch eine Interpretation.)

"Es ist schwierig zu glauben, dass diese Beschreibung vollstaendig ist. Sie scheint die Welt voellig nebulos zu machen, es sei denn irgend jemand, etwa eine Maus, blickt auf sie. Das Problem ist zu verstehen, dass man mit einer Blendlaterne das Teilchen beobachten kann." (p. 207)

"Das Schema ist von sehr grossem praktischen Wert, solange wir nichts Besseres haben, und macht guten Gebrauch von solchen Konzeptionen wie Masse und Ladung, mit denen die Physik in ihren fruehesten Tagen startete. Aber man hat ihm zu misstrauen, wenn man an ein tieferes Schema glaubt." (p. 208)

 "Das Maxwellsche Schema ist wunderbar effektiv zum Erklaeren vieler Dinge, besonders makroskopischer. Jedoch es gelangt in eine unangenehme Lage bei der Strahlung. Die Fluktuationen sind nach dem Planckschen Gesetz groesser als sie es nach der Maxwellschen Theorie sind." (p. 208)

Wir vergleichen hierzu EINSTEINS Ausfuehrungen in seinen Briefen mit MAX BORN3).

Zum dritten Absatz s. den von A. EINSTEIN (Phys. Z. 10, 817 (1909)) gefundenen Ausdruck fuer das mittlere Schwankungsquadrat  D2 gemaess dem Planckschen Strahlungsgesetz. Das relative mittlere Schwankungsquadrat betraegt , wo Z die Zahl der elektromagnetischen Eigenschwingungen und q die Zahl der Lichtquanten ist. Gemaess der Maxwellschen Theorie (Rayleighsche Strahlungsgesetz) D2/E2=1/Z und fuer Lichtpartikeln gilt das Wiensche Gesetz mit D2/E2=1/q.

In der Diskussion zur Vorlesung bemerkte EINSTEIN auf eine Anfrage von 0. GREENBERG (p. 210) ueber die Existenz von Gravitationsstrahlung: „Warum nicht auch Gravitationsquanten erwarten? Aber dies ist schwierig in eine Feldtheorie einzufuegen.“

„Elektromagnetische Wellen koennen wir in einen Behaelter einschliessen, Gravitationswellen aber nicht.“

Fuer die Fluktuationen einer gravischen „Hohlraum-Strahlung“ gilt also weder das klassische Gesetz D2/E2=1/Z noch das quantentheoretische Gesetz D2/E2=Z-1 + Z/q. Der Begriff einer gravischen Hohlraum-Strahlung wird damit sehr problematisch, worauf E. SCHROEDINCER schon 1918 hinwies. (vgl.4))

In seinem Beitrag "Einleitende Bemerkungen zu Grundbegriffen" in der de Broglie-Festschrift (1952) liess EINSTEIN die Frage prinzipiell offen, weiche "adaequaten Ausdrucksmittel bzw. Fundamentalbegriffe" den "realen Zustand" eines physikalischen Svstems beschreiben: "Materielle Punkte oder das Feld" oder ein "noch zu erfindendes Ausdrucksmittel". In seiner Vorlesung sah er (wie schon in seinem Schlusswort zu: „Albert Einstein, Philosopher-Scientist“, 1949) die Alternative einer einheitlichen Feldtheorie oder einer Beschreibung eines Systems durch endlich viele Quantenzahlen. Die Feldtheorie ist eine "Theorie von Raum und Zeit" mit unendlichen Quantenzahlen, die reine Quantentheorie aber eine "Theorie ohne Raum und Zeit" (p. 209).

In seinen gleichzeitigen Bemerkungen zur einheitlichen Feldtheorie ("The Meaning of Relativity", App. II "Generalized Theory of Gravitation" (1954) bzw. "Relativistic Theory of the Non-Symmetric Field" (1955)) sowie ueber "Relativitaet und Raumproblem" (S. Anhang 5 zu "Ueber die spezielle und allgemeine Relativitaetstheorie", 21. Aufl.) identifizierte EINSTEIN die Raum-Zeit mit dem sie einnehmenden geometrischen Feld. Wie bei R. DESCARTES hat in der Allgemeinen Relativitaetstheorie der Raum gegenueber dem "Raum-Erfuellenden" keine "Sonderexistenz" mehr. "Einen leeren Raum ohne Feld gibt es nicht." Dies loest natuerlich auch MACHS Problematik auf; nach dem Machschen Prinzip der Relativitaet der Traegheit besteht der Raum aus "den Distanzen zwischen den materiellen Punkten". "Warum den Rest des Feldes vom Gravitationsfeld separieren?" (p. 210). - EINSTEINS Realitaets-Begriff wird somit zu dem, ja ebenfalls von DESCARTES herkommenden, Materie-Begriff SPINOZAS: "Materie = Ausdehnung = Raum".

EINSTEIN sagte zu seinem Programm einer solchen einheitlichen Feldtheorie: "Die Hauptfrage ist gegenwaertig, ob eine Feldtheorie der hier ins Auge gefassten Art ueberhaupt zum Ziele fuehren kann. Es ist damit eine Theorie gemeint, welche das physikalisch Reale (mit Einschluss des vierdimensionalen Raumes) erschoepfend beschreibt." Die Quantentheorie steht dagegen, weil sie nicht den "Zustand eines Systems", sondern die Statistik der Messresultate ueber diesen Zustand betrachtet. Sie hat deswegen einen „abgeschwaechten Realitaetsbegriff“.

EINSTEIN wies aber auch auf das Hauptproblem einer Feldtheorie hin. Sie fuehrt grundsaetzlich auf unendlich viele Quantenzahlen, weil das Feld ein Kontinuum ist. "Aus dem Quantenphaenomen scheint mit Sicherheit hervorzugehen, dass ein endliches System von endlicher Energie durch eine endliche Zahl von Zahlen (Quanten-Zahlen) vollstaendig beschrieben werden kann". Dies "muss zu einem Versuch fuehren, die Realitaet durch eine rein algebraische Theorie zu beschreiben. Niemand sieht aber, wie die Basis einer solchen Theorie gewonnen werden koennte." (Vgl. pp. 209-210.)

GEGEN EINSTEINS Programm wandte sich PAULI ("Phaenomen und physikalische Realitaet", 1954): "Am klassischen Feldbegriff scheint es mir unbefriedigend, dass ein einziges Feld ohne Wechselwirkung mit anderen Objekten, das nie gemessen werden kann, obwohl physikalisch irreal, in dieser Theorie logisch moeglich ist." PAULI forderte eine Feldtheorie, in der das Feld und die Messkoerper als komplementaere Groessen auftreten. Die Physik besteht komplementaer aus der Raum-Zeit-Geometrie und den Beobachtungsmitteln zu ihrer Ausmessung. Insofern sei EINSTEINS Realitaetsbegriff zu "eng".

Man kann dies als Programm fuer eine Quantentheorie der Gravitation bzw. des unitaeren Feldes auffassen, das die "kindische Idee" ausschliesst, "Raum und Zeit zu quantisieren" (p. 209). Anders ausgedrueckt: Die speziell-relativistische Quantentheorie, die durch die Lichtgeschwindigkeit c die Relativitaet der lnertial-Systerne und durch das Wirkungsquantum h die Komplementaritaet erfasst, ist eine unvollstaendige Theorie und "schrecklich kompliziert" (p. 209). Die Allgemeine Relativitaetstheorie enthaelt mit c die vierdimensionale Raum-Zeit und mit der Gravitationskonstante G die Relativitaet aller Bezugssysteme mit dem G-Feld. Sie ist aber insofern unvollstaendig („zu eng“), weil sie die Komplementaritaet nicht beruecksichtigt, die die Beobachtbarkeit des geometrischen Feldes bestimmt.

II. Objektivitaet, Relativitaet und Komplementaritaet

Das Objektivitaetspostulat der Physik nimmt, wie es EINSTEIN verlangt, einen Standpunkt des Beobachters ausserhalb des und unabhaengig von dem zu beobachtenden Objekt an. Der Physiker ist ein "transzendentales Subjekt" im Sinne von I. KANT und ein "exoskopischer" Beobachter. Diese Objektivierung gelingt zu einem auf Grund der Einsteinschen Relativitaetsprinzipien, die es erlauben, aus den Messresultaten eines speziellen, in Raum und Zeit lokalisierten, Beobachters auf diejenigen aller moeglichen Beobachter zu schliessen: Die allgemein-kovariant geschriebenen physikalischen Gleichungen sind Bezugssystem-unabhaengig formulierbar. Zum anderen wird die Wahlfreiheit der Messanordnung in der Quantentheorie durch das BOHRsche Komplementaritaetsprinzip erfasst.. Die Bewegungsgleichungen der Quantenmechanik (als Heisenbergsche Matrizen-Gleichungen oder als Schroedingersche Wellengleichung geschrieben) gelten bei jeder Wahl der Messanordnung, sie sind darstellungsinvariant.

Die Aussagen dieser "absoluten" Theorien werden durch die Wahl des Bezugssystems in die Raum-Zeit projiziert und mit einer gewaehlten Messanordnung zu "Beobachtungsaussagen", die experimentell falsifizierbar oder verifizierbar sind. Bis zur Formulierung solcher „Protokoll-Saetze“ kann von den Bezugssystemen und Messeinrichtungen abstrahiert werden.5)

Der Beobachter nimmt an der Variabilitaet und Varianz der Messobjekte nicht teil. Dadurch bekommen die Bewegungsgleichungen der Relativitaetstheorie und Quantenmechanik (EINSTEINsche bzw. HEISENBERGsche dynamische Gleichungen) dieselbe objektive Bedeutung wie die NEWTONschen Gleichungen der Mechanik. Diese prinzipielle Nichtteilnahme des Subjektes an die AEnderungen des Objektes ist die Basis jeder sinnvollen Messung. Das spezielle und das allgemeine Relativitaetsprinzip EINSTEINS erlauben, den Beobachter beliebig als "ruhend" oder "bewegt", als "inertial" oder "beschleunigt" anzusehen. BOHRS Komplementaritaetsprinzip erklaert Beobachter und Objekt fuer kompensatorisch. Der "Heisenbergsche Schnitt" zwischen Messanordnung und Messgegenstand ist beliebig legbar.

Jeder Beobachter hat seine Eigenzeit, aber EINSTEINS "Relativitaet der Gleichzeitigkeit" und sein Aequivalenzprinzip erlauben, die Zeitmessungen beliebig relativ zueinander bewegter Beobachter ineinander zu ueberfuehren. Das Wellen- und das Teilchen-Bild der Materie sind komplementaer, aber die HEISENBERGschen Vertauschungsregeln und SCHROEDINGERs AEquivalenztheorem bestimmen den UEbergang von einem Bild zum anderen. Der physikalische Inhalt der Relativitaets- und der Quantentheorie zusammengenommen ist Bezugssystemunabhaeng.g und Bild-frei.

Die Relativitaets- und AEquivalenzprinzipien von EINSTEIN und das Komplementaritaetsprinzip von BOHR sind fuer die Physik "die Bedingungen der Moeglichkeit der Erfahrung ueberhaupt", weil sie "zugleich Bedingungen fuer die Moeglichkeit der Gegenstaende der Erfahrung sind." Diese Interpretation der "kopernikanischen Wendung" KANTS besagt: Relativitaets- und Quantentheorie sind als notwendige Bedingungen fuer die Moeglichkeit ihrer Erfahrung. Die Raum-Zeit- Welt der EINSTEINschen Gravitations- und der einheitlichen Feldtheorie fuehrt zur Relativitaet aller Bezugssysteme, und die Quantlung der dynamischen Gleichungen gemaess dem Planckschen Wirkungsquantum h bedingt die Komplementaritaet der "Bilder".

Wegen der Gleichberechtigung aller Bezugssysteme ist die Raum-Zeit-Struktur mathematisch "absolut", und wegen der Wahlfreiheit der Bilder ist die Quantenstruktur "bildlos". (P. DIRAC zitierte Mose II: "Du sollst Dir kein Bildnis machen.")6)

Der Beobachter steht als transzendentales Subjekt ausserhalb von Relativitaet und Komplementaritaet. Daher kann die Physik alle Beobachtungsaussagen ueber Raum, Zeit und Materie in der Sprache der klassischen Physik NEWTONS machen, die allein auf dem Objektivitaetspostulat beruht: Die klassische Physik kennt keinen Einfluss der Beobachtung auf das zu beobachtende Objekt; Quanten- und Relativitaetstheorie bestimmen diesen Einfluss aus vom Beobachter unabhaengigen Gesetzen.

BOHRS Komplementaritaets- und EINSTEINS Relativitaetsprinzipien beruhen auf der Distinction von Subjekt und Objekt bei Beobachtung und Messung. Eine "endoskopische" Vereinigung von Subjekt und Objekt ist hingegen das Wesen der Mystik (W. PAULI). Nur objektivierte Erfahrungen sind allgemein mitteilbar und nachpruefbar, endogene Erlebnisse dagegen nicht.6)

Anmerkungen

1) Solche „engen Loesungen“ muessten nach PAULI einer Bedingung (Dx)2 < L20 genuegen.
2) A. EINSTEIN schrieb in L. de Broglie „Physicien et penseur“ (Paris 1952, p. 7): „Es gibt so etwas wie den „realen Zustand“ eines physikalischen Systems, was unabhaengig von jeder Beobachtung oder Messung objektiv existiert und mit den Ausdruckmitteln der Physik im Prinzip beschrieben werden kann.“ EINSTEIN raeumte aber ein: „Die These der Realitaet hat nicht den Sinn einer klaren Aussage, wegen ihrer „metaphysischen“ Natur; sie hat eigentlich nur programmatischen Charakter.
3) Alle Texte stehen im direkten Zusammenhang mit EINSTEINS Ausfuehrungen, s.: A. EINSTEIN und M. BORN: Briefwechsel 1916-1955. Muenchen, Nymphenburger, S. 275-300. - M. BORN, Physik im Wandel meiner Zeit. Braunschweig, Vieweg, bes. S. 185-201 und S. 217-231.
4) W. PAULI: Physik und Erkenntnistheorie. Braunschweig, Vieweg 1961, vgl. bes. S. 18-23, S. 76-80 und S. 93-101 (1954).
A. EINSTEIN: The meaning of relativity, ed. Princeton Univ Press, pp. 127-157 sowie 5ed Ed, 1955: S. 133-136
5) Vgl. zu PAULIS Bemerkung gegen HEISENBERG, PAULI, 1.C. S. 99.
6) P. A. M. DIRAC, Die Prinzipien der Quantenmechanik. Leipzig 1930. W. PAULI, Die Wissenschaft und das abendlaendische Denken. In W. PAULI, Aufsaetze und Vortraege. Braunschweig 1961, S. 102-112.

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