Von Wilfried Schroeder
Im
ausgehenden Mittelalter und zu Beginn der Neuzeit wurden die Menschen in
Norddeutschland immer wieder von
geheimnisvollen Lichterscheinungen am Himmel erschreckt. Es waren verschiedene
Vorgaenge, mal detonierende Meteore, mal ungewoehnliche Ringe um Sonne und Mond,
auffaellige Regenboegen, die die Menschen in Erstaunen versetzten und oft genug
vielseitige AEngste ausloesten. Die Umstaende der Reformation, die vielen
politischen Auseinandersetzungen mit den Folgen fuer den "gemeinen
Mann" taten ein uebriges, um die Menschen in eine Angsthaltung zu
versetzen. Der Himmel, als ewig und unveraenderlich angesehen, musste also etwas
Besonderes anzeigen, wenn sich dort "erschroeckliche Gesichte" und
"grausam Wunderzeychen" zeigten, die ebenso vielfaeltig wie unerklaerbar
schienen. Jede Abweichung von der vorgegebenen goettlichen und somit kosmischen
Ordnung war etwas, was alle Menschen zutiefst erschuetterte. Dazu gehoerte auch
die als Nordlichter oder Polarlichter bekannte Himmelserscheinung.
In
der Literatur wird gerne der Eindruck vermittelt, dass mit der astronomischen
und geographischen Entdeckungsgeschichte ein neues Weltbild, ja ein neues Bewusstsein
der Menschen eingetreten ist. Demzufolge sollen die Entdeckungen, die eine neue
Erde vermittelten sowie die astronomischen Beobachtungen, die das
heliozentrische Geschehen verdeutlichen, auch zu neuen Bewusstseinsstrukturen
gefuehrt haben. Der Begriff Neuzeit wird also gerne im umfassenden Sinne gesehen
und gewertet: neues Verstaendnis, neue Entdeckungen und damit neues Bewusstsein.
Besonders wird dies an den Beispielen in der Astronomie beschrieben wie der
Entdeckung der Sonnenflecken, der Phasen der Venus oder der Jupitermonde
u.v.a.m.
Nun
laesst sich jedoch zeigen, dass eine breite Bewusstseinsaenderung keineswegs
eingetreten ist, denn sowohl das Bild der Sonne als auch der himmlischen
Erscheinungen wurde vielfach mit anderen Augen gesehen als eine
wissenschaftliche Erkenntnis, und so wurden trotz der Entdeckungen bisherige
Ansichten fortgeschrieben, wie nachstehende Ausfuehrungen darlegen werden.
Der neue Himmel
Es
ist bekannte dass Fabricius (1564-1617), Galilei (1564-1642) und andere von der
Entdeckung dunkler Flecken auf der Sonne berichteten. Dies entfachte vor allem
in theologischen Kreisen eine heftige Diskussion und fuehrte zu nachhaltigen
Sanktionen, z.B. gegen Galilei. Doch was erfuhr das Volk davon? Im Prinzip
nichts, ja, es interessierte sich auch gar nicht dafuer. Was stattfand, war eine
Debatte, fernab von den Beduerfnissen der Menschen, die oft genug nicht wussten,
woher sie ihr taeglich Brot nehmen sollten. UEberdies, die unbefleckte Sonne war
der Kirche viel wert, sie konnte verglichen werden mit der "Maria
lmmaculata" [die unbefleckte Jungfrau Maria]. Mit anderen Worten: in der
Sicht der Kirche hatte die goettliche Allmacht ein ebenso notwendiges wie reines
Gebilde geschaffen und als Tageslicht fuer die Menschen eingesetzt.
Es bestand fuer das einfache Volk auch kein Grund an der Makellosigkeit der Sonne zu zweifeln. Zwar war immer wieder berichtet worden, dass man mit blossem Auge "Flecken" an der Sonne gesehen habe, doch diese wurden stets als vorueberziehende Teile erlaeutert. In allen Zeiten - noch lange nach der Entdeckung der Sonnenflecken - waere niemand auf die Idee gekommen, die Makellosigkeit der Sonne in Frage zu stellen. Wie wichtig die Reinheit der Sonne fuer die Kirche und sicher auch das Kirchenvolk war, zeigt das folgende Beispiel aus der Marienverehrung. In der Gnadenkapelle zu Bernried befindet sich eine schlichte Mariendarstellung von 1770, in der das folgende Gedicht zu lesen ist:
Maria
weit thust du den Mon den
frommen bringt er trost und freud |
Zwei
Astronomen blicken durch ihr Fernrohr, wobei einer von ihnen zu Maria spricht:
"Du bist makellos."
In
der Marienverehrung spielte der Vergleich mit der Sonne eine bleibende Rolle.
Die Makellosigkeit der Sonne war ebenso unangreifbar wie das Geheimnis der
unbefleckten Empfaengnis. Die kirchliche Volkskunst hielt auch nach den
neuzeitlichen Entdeckungen stets fest am Bild der makellosen Schoenheit von
Sonne und Maria. Man sieht hieran, wie unbeeindruckt die Menschen von bestimmten
Entdeckungen blieben, selbst als sich die neuen naturwissenschaftlichen (besonders
astronomischen) Erkenntnisse andeuteten und in der akademisch gebildeten Welt
Eingang fanden. Doch dies ist eben der Punkt: Diese Erkenntnisse wurden
vornehmlich in theologischen Kreisen diskutiert; eine Weitergabe an das Volk
blieb aus. Insofern muss gesehen werden, dass von einem Bewusstseinswandel der
Menschen ueberhaupt nicht gesprochen werden kann. Neuzeit heisst zumindest nicht
Neuorientierung der breiten Volksmassen. Dies betrifft nicht nur den Bereich der
Marienverehrung, sondern ebenso alle anderen Bereiche, soweit sie mit dem
kirchlichen Glauben in Zusammenhang stehen.
Die Rolle der "Wunderzeychen"
Das
Polarlicht ist eine physikalische Erscheinung der Hochatmosphaere, die in enger
Beziehung zur Sonnenaktivitaet steht. Diese kurze Einschaetzung drueckt etwas
aus, wovon Jahrhunderte lang in der Vergangenheit niemand etwas wusste, und was
selbst heute noch nicht jeder weiss. Wie laesst es sich sonst erklaeren, dass
immer noch bei gewaltigen (meist roten) Polarlichtern, die auch in mittleren
Breiten zu sehen sind, oftmals die Feuerwehr gerufen wird? Dem himmlischen
Geschehen steht also selbst der moderne Mensch gelegentlich fragend gegenueber.
Und wieviel mehr muss man es dem mittelalterlich-neuzeitlichen Menschen
zugestehen, dass er in ungewoehnlichen himmlischen Zeichen besondere Signale
sah!
Das
Problem der himmlischen Zeichen kann von verschiedener Warte aus betrachtet
werden. Einmal ist da der theologische Hintergrund der damaligen Zeit mit seinen
spezifischen historischen Umrissen. Mit der einbrechenden Reformation war es zu
extremen Veraenderungen gekommen, die den einfachen Menschen in vieler Hinsicht ueberforderten. Es ist also kein Wunder,
dass man sich im Sinne der Apokalypse
in der Endzeit glaubte und die Wiederkehr Christi nur noch als eine Frage der
Zeit ansah. Die zum Teil furchterregenden Schilderungen in der Apokalypse
[Offenbarung des Johannes, das letzte Buch des Neuen Testaments - die Red.]
fanden in gewisser Weise ihre Projektion am Himmel, wenn man z.B. einmal eine
Interpretation von C.C. Jung (1958) heranzieht. Erfuellt von Angst um das eigene
Leben, umgeben von ungeahnten Umwaelzungen fand sich der Mensch nicht mehr
geborgen, er projizierte seine tief empfundene Angst sozusagen an den Himmel.
Dort fanden sich immer wieder Ereignisse, die er nicht erklaeren, sondern nur
empfinden konnte. Die Botschaft war dann stets dieselbe: Gott selbst war es, der
die Endzeit einlaeutete, und die Zeichen waren Vorboten kommenden Unheils. Dies
traf fuer alle Himmelsereignisse zu, die ausserhalb des normalen Geschehens
auftraten: Meteore, ungewoehnliche Regenbogen, Polarlichter, Sonnen- und
Mondfinsternisse, ja selbst ungewoehnliche Halo-Erscheinungen wurden umgedeutet
und als Zeichen verstanden. [Halo = insbesondere Lichthof um Sonne und Mond,
aber auch Flecken oder Streifen, die durch Brechung oder Spiegelung des Lichtes
an den Eiskristallen in der Atmosphaere entstehen. - Die Red.]
Bei
diesen Gegebenheiten war von einem "neuen Weltbild" in der Bevoelkerung
nichts zu spueren. Die gleichzeitigen kriegerischen Ereignisse im Verlaufe der
Reformation und der Folgezeit brachten fuer die Menschen ganz andere Probleme
mit sich: "ihre leibsnarung - von daeglicher seiner arbeit und dem schweisz
seines angesichts" war fuer sie von elementarer Bedeutung. Irgendwelche
akademischen Diskussionen um ein neues Weltbild gingen ihnen ab, nicht nur, weil
sie der lateinischen Sprache nicht maechtig waren und keine Schulbildung besassen,
sondern weil ganz andere Sorgen ihr Leben bestimmten.
Ebenso
wie das Erscheinen von Kometen stets das Aussergewoehnliche bedeutete, so waren
auch alle anderen Himmelszeichen fuer die Menschen grundsaetzlich
"Boten" - Boten der einbrechenden Endzeit oder des Ungluecks
schlechthin. In ihrem aberglaeubischen Verstaendnis stand die Bevoelkerung (uebrigens
aber auch die breite Gelehrtenwelt der damaligen Zeit!) diesen Himmelszeichen voellig
hilflos gegenueber.
Seit
der Erfindung der Buchdrueckerkunst wurden recht bald immer wieder Flugblaetter
mit theologischer Thematik unter das Volk, gebracht, so auch Texte ueber die
"Wunderzeychen", wovon einige Exemplare in verschiedener Aufmachung ueberliefert
und fuer die Forschung verfuegbar sind. Darin wurde natuerlich keine moderne
bildliche Darstellung der Polarlichter gegeben, sondern eher eine allegorische
Umkleidung des eigentlichen Geschehens, wobei die einzelnen Formen (Strahlen, Flaechen,
Krone usw.) in Form von Gestalten oder Tieren dargestellt wurden. Dies erscheint
auch durchaus sinnvoll aus damaligen Sicht, wurden doch diese Erscheinungen als
Auseinandersetzung, die sich am Himmel vollzog, gewertet.
Die
weiteren historischen Ereignisse - Reformation, Gegenreforrnation, Dreissigjaehriger
Krieg - trugen dazu bei, dass in breiten Bevoelkerungsschichten die alten aberglaeubischen
Vorstellungen erhalten blieben. Jedenfalls fand eine reale Auseinandersetzung
mit dem optisch Wahrgenommenen nicht statt. Bis weit in das 18. Jahrhundert
hielt sich der Glaube an Wunderzeichen, oder zumindest entzogen sich
Erscheinungen, die urploetzlich am Himmel stattfanden, jeglicher Erklaerung, ausser
man ordnete sie Gottes Einwirken zu.
So
gibt es auch kaum eine sinnvolle Deutung der Polarlichter aus jener Zeit, die
etwa das Ereignis als der Atmosphaere zugehoerig beschreiben wuerden. Wenn also
fuer jene Zeit von einem Erkenntnisfortschritt gesprochen wird, so betrifft dies
nicht die allgemeine Bevoelkerung - sie blieb weitestgehend ausserhalb
akademischen Diskussionen und verharrte in ihrem bisherigen Wissen oder besser
Unwissen.
Fuer
die Zeit der Reformation und Gegenreformation muss also gesehen werden, dass
himmlische Ereignisse ihren bedrohlichen Charakter beibehielten. Die gewaltigen
Umwaelzungen fuehrten zu einer Endzeit-Erwartung, die durch jedes ungewoehnliche
Zeichen am Himmel noch unterstrichen wurde. Eine rationale Auseinandersetzung
mit dem, was ihnen da in Bildern widerfuhr, konnte nicht stattfinden, da alle
Voraussetzungen dafuer fehlten. So blieb das Ungewoehnliche am Hinmelszelt -
ungeachtet all der Arbeiten eines Galilei, Copernicus, Kepler u.a. - im breiten
Volke unbeachtet und unverstanden, erfuhr keinen Widerhall, aenderte nichts an
den allgemeinen Befindlichkeiten. Darueber hinaus sollte nicht uebersehen
werden, dass selbst in den einigermassen gebildeten Kreisen vielfach Unkenntnis ueber die
Naturablaeufe vorherrschte.
Die
Zeit zwischen 1500 und 1700 war gekennzeichnet durch das sporadische Wahrnehmen
ungewoehnlicher Erscheinungen. Sie wurden in Bildern dargestellt, unter das Volk
gebracht und bildeten den Gespraechsstoff der Tage. In die Zeit des 17.
Jahrhunderts faellt noch ein eigenartiger Abschnitt, der in der Fachliteratur
das "Maunder-Minimum" genannt wird. Eigentlich war aus der aelteren
Literatur laengst bekannt, dass zwischen 1645 und 1710 offensichtlich weniger
Polarlichtdaten vorliegen als aus anderen Zeitabschnitten. Dies koennte aus den
historischen Umstaenden (Krieg, Zerstoerung von Kloestern und ihrer
Bibliotheken) hinreichend verstanden wer- den. In der neueren Literatur wird
jedoch gerne der Ausdruck "Maunder-Minimum" gebraucht nach dem
englischen Astronomen Maunder, der besonders auf diesen Zeitabschnitt hinwies.
Allerdings hat vor ihm bereits der deutsche Astronom Spoerer - und vor ihm
andere - diesen Tatbestand beschrieben.
An
sich ist diese Zeit der kargen Informationen nichts Ungewoehnliches, denn in
jenen Tagen der Zerstoerung hatten die Menschen wahrlich anderes zu tun, als auf
Polarlichter zu achten und diese zu registrieren. Die historischen Umstaende muessen
gesehen werden, um zu verstehen, weshalb in bestimmten Zeiten weniger
Polarlichter verzeichnet wurden als in anderen. Von einem Verlust der Kenntnis
kann jedoch nicht gesprochen werden. Diese himmlischen Ereignisse hatten
zeitweilig lediglich eine andere Wichtung bekommen. Die Erwartung "Komm,
lieber juengster Tag!" schien sich ja in den Kriegswirren des 16. und 17.
Jahrhunderts beinahe zu erfuellen. Die dazu noch beobachteten "grausigen
Gesichte", die am Himmel erschienen, passten nur zu gut in diese
Erwartungshaltung und wurden daher eher als selbstverstaendlich hingenommen.
Von
einer geordneten wissenschaftlichen Arbeit kann fuer jene Zeit nicht gesprochen
werden. Ausserdem war man nicht vorrangig an den Polarlichtern oder aehnlichen
Erscheinungen interessiert, sondern vor allem an der Sonnenbeobachtung und
Fragen zum Aufbau des Kosmos und der Gestalt der Erde. Also wir auch von seiten
der forschenden Wissenschaft kein besonderes Interesse an der Aufklaerung der
"erschroecklichen Wunderzeychen" vorhanden.
Die gewandelte Sichtweise
In
der Zeit nach dem Dreissigjaehrigen Krieg, also nach 1648, kehrte das normale
Leben zurueck. Im 17. Jahrhundert vollzogen sich trotz der politischen Wirren
Akademie-Gruendungen und insgesamt kamen neue Fragestellungen auf. Etwa ab dem
Ende des 17. Jahrhunderts finden sich auch vermehrt Meldungen von Polarlichtern,
wobei in jene Zeit auch eines fiel, das die Menschen ueberall in Aufregung
versetzen sollte. Von allen Polarlichtern, die im 18. Jahrhundert gesehen
wurden, hat zweifelsohne das vom Maerz 1716 das groesste Aufsehen erregt. So
schreibt denn auch Pilgram (1788): "Im Maerzen war das groesste Nordlicht
neuerer Zeiten, welches durch ganz Europa gesehen wurde."
Entsprechend
war die Wirkung auf die Menschen, die diesem Ereignis voellig unvorbereitet
gegenueberstanden. War doch gerade nach all den Kriegswirren eine gewisse
Normalitaet eingetreten, schien die Endzeit ausgeblieben zu sein und jetzt dies!
Ein gewaltiges Nordlicht, das in ganz Europa sichtbar wurde, erschreckte das
"gemeine Volk" allenthalben. Bei diesem Ereignis macht sich dann auch
erstmals massiv die Volksseele Luft, und man tritt an die gelehrte Welt heran
und verlangt Auskunft, was es mit dieser Erscheinung auf sich habe.
In
Halle wurde daraufhin eine oeffentliche Lesung fuer das Publikum abgehalten,
welches Auskunft begehrte, ja verlangte, die Wissenschaft moege eine Einordnung
des Geschehens liefern. Das war eine bisher nie dagewesene Situation. Das
Ereignis wurde nicht mehr erschauernd hingenommen. sondern es wurde offensiv
verlangt, darueber Naeheres zu erfahren. In Halle traf der
"Volkszorn", so kann man das durchaus nennen, den Philosophen
Christian Wolff (1679-1754). Seine "lectione publica" leitete er mit
folgenden Worten ein:
"Als
naechst verwichenen Dienstag nach Oculi den 17. Martii dieses jetzt lauffenden
1716. Jahres des Abends einige Stunden bey uns in Halle ein ungewoehnliches
Licht gegen Norden am Himmel erschienen (welches / wie man bald hernach erfahren
/ auch an vielen anderen Orten / die in einem von Halle nicht weit entferneten
parallelo gelegen / wahrgenommen worden) und viele in der Erkaenntniss der Natur
Unerfahrene in grosse Bestuerzung versetzet; so hat man sich vielfaeltig
erkundiget, was ich von diesem sonderbahren phaenomeno hielte und absonderlich
zu wissen begehret / ob man mit einigem Grunde ihm eine gewisse Deutung zueignen
koenne. Da ich nun verspueret / dass man diesem Stuecke ein Vertrauen zu mir
gefasset / und dabey erwogen / dass ich ... , bestellet bin das Buch der Natur
zu erklaeren; so entschloss ich mich endlich in einer Lectione publica den 24.
Martii meine Gedancken davon zu eroeffnen / welcher auch eine Menge der Zuhoerer
beygewohnet / ...... "
Das
Neue hieran ist, dass ein Wissenschaftler dem Volk eine Vorlesung hielt, um die
Natur zu erklaeren. Zwei Dinge spielen hier hinein: einmal das Interesse
zahlreicher Menschen, die dem Ereignis hilflos gegenueberstanden, gleichwohl
aber eine Erklaerung verlangten und schliesslich die Hoffnung, dass die
Wissenschaft eine Erklaerung wuerde geben koennen. Damit ist das bisherige Bild
des Menschen, der aengstlich und demuetig die Himmelserscheinungen betrachtet,
gewandelt. An die Steile der Furcht tritt das Interesse, an die Stelle der
Vermutung der Wunsch nach Erklaerung. Das ist nun tatsaechlich in dieser Form
etwas Neues, was sich hier in Halle im Jahre 1716 vollzog.
In
seinem Vortrag macht Wolff nochmals deutlich - und dies ist ein interessanter
neuer Ansatz des Selbstverstaendnisses in der Wissenschaft - dass es nun seines
Amtes sei, die "natuerlichen Wuerckungen und Begebenheiten der Natur zu
erklaeren, und von diesem besonderen phaenomeno sich bereits verschiedene
Gedancken hin und wieder bloss gegeben; so ist noethig, dass mit wenigem
untersuche, was vor ein Urtheil von dergleichen Begebenheiten muesse gefaellet
werden."
Bereits in einem oeffentlichen Anschlag hatte Wolff zuvor deutlich gemacht, dass er folgende Fragen eroertern wolle:
1.
Ob unser phaenomenon etwas sonderbahres sey, oder ob es nicht vielmehr
bereits vor diesem an anderen Orten sich sehen lassen und von sorgfaeltigen
Observatoribus angemercket worden; 2. Ob es unter die Zahl der Meteororum zu rechnen sey, wie sie die Naturkuendiger zu nennen pflegen, und, wenn man hierauf mit Ja antworten soll, in welche Classe der Meteororuin es muesse referiret werden. 3. Zum dritten habe ich versprochen, die Ursachen mir kurtzem zu untersuchen, woher dergleichen sonderbahre phaenomena in der Lufft entstehen und 4. habe ich auch etwas beruehren wollen von denen Wuerckungen, ingleichen von der Bedeutung solcher phaenomenorum. |
Wolff
geht diesen Fragen nach. Er kommt dabei letztlich zu der Ansicht, dass es sich
bei der Lichterscheinung nicht um ein Gericht Gottes handelt, sondern vielmehr
um eine Erscheinung, die der Erdatmosphaere angehoert. Die genaue Formulierung
der Erklaerung ist an sich nicht wichtig. Eine nach heutigen Massstaeben
einzuordnende physikalische Erklaerung hat er nicht geliefert. Entscheidend bei
Wolffs Lesung ist jedoch, dass eine neue Art des Umganges mit der Natur in der Oeffentlichkeit stattfindet. Man sieht einen Professor, der dem Volk das
"Buch der Natur" erklaert, weil es eben seine Aufgabe ist, dies zu
tun. Damit beginnt eine andere Art des Umganges mit der Natur und ihren Phaenomenen,
aber auch eine andere Sichtweise des Volkes. Nicht mehr gebannt und gefangen in
der eigenen Angst vielmehr aufgeschlossen, etwas zu erfahren ueber das, was
einem da widerfaehrt, ist jetzt der Neuansatz. Der Umgang mit dem Himmel ist ein
anderer geworden. So gesehen steht das ungewoehnliche Polarlicht vom 17. Maerz
1716 als Neubeginn in der Naturauffassung und leitet ueber in eine rationalere
Umgehensweise mit dem, was sich dem menschlichen Auge darbietet.