Der Wandel im Naturbild
- Das Polarlicht von 1716 -

Von Wilfried Schroeder

Im ausgehenden Mittelalter und zu Beginn der Neuzeit wurden die Menschen in Norddeutschland  immer wieder von geheimnisvollen Lichterscheinungen am Himmel erschreckt. Es waren verschiedene Vorgaenge, mal detonierende Meteore, mal ungewoehnliche Ringe um Sonne und Mond, auffaellige Regenboegen, die die Menschen in Erstaunen versetzten und oft genug vielseitige AEngste ausloesten. Die Umstaende der Reformation, die vielen politischen Auseinandersetzungen mit den Folgen fuer den "gemeinen Mann" taten ein uebriges, um die Menschen in eine Angsthaltung zu versetzen. Der Himmel, als ewig und unveraenderlich angesehen, musste also etwas Besonderes anzeigen, wenn sich dort "erschroeckliche Gesichte" und "grausam Wunderzeychen" zeigten, die ebenso vielfaeltig wie unerklaerbar schienen. Jede Abweichung von der vorgegebenen goettlichen und somit kosmischen Ordnung war etwas, was alle Menschen zutiefst erschuetterte. Dazu gehoerte auch die als Nordlichter oder Polarlichter bekannte Himmelserscheinung.

In der Literatur wird gerne der Eindruck vermittelt, dass mit der astronomischen und geographischen Entdeckungsgeschichte ein neues Weltbild, ja ein neues Bewusstsein der Menschen eingetreten ist. Demzufolge sollen die Entdeckungen, die eine neue Erde vermittelten sowie die astronomischen Beobachtungen, die das heliozentrische Geschehen verdeutlichen, auch zu neuen Bewusstseinsstrukturen gefuehrt haben. Der Begriff Neuzeit wird also gerne im umfassenden Sinne gesehen und gewertet: neues Verstaendnis, neue Entdeckungen und damit neues Bewusstsein. Besonders wird dies an den Beispielen in der Astronomie beschrieben wie der Entdeckung der Sonnenflecken, der Phasen der Venus oder der Jupitermonde u.v.a.m.

Nun laesst sich jedoch zeigen, dass eine breite Bewusstseinsaenderung keineswegs eingetreten ist, denn sowohl das Bild der Sonne als auch der himmlischen Erscheinungen wurde vielfach mit anderen Augen gesehen als eine wissenschaftliche Erkenntnis, und so wurden trotz der Entdeckungen bisherige Ansichten fortgeschrieben, wie nachstehende Ausfuehrungen darlegen werden.

Der neue Himmel

Es ist bekannte dass Fabricius (1564-1617), Galilei (1564-1642) und andere von der Entdeckung dunkler Flecken auf der Sonne berichteten. Dies entfachte vor allem in theologischen Kreisen eine heftige Diskussion und fuehrte zu nachhaltigen Sanktionen, z.B. gegen Galilei. Doch was erfuhr das Volk davon? Im Prinzip nichts, ja, es interessierte sich auch gar nicht dafuer. Was stattfand, war eine Debatte, fernab von den Beduerfnissen der Menschen, die oft genug nicht wussten, woher sie ihr taeglich Brot nehmen sollten. UEberdies, die unbefleckte Sonne war der Kirche viel wert, sie konnte verglichen werden mit der "Maria lmmaculata" [die unbefleckte Jungfrau Maria]. Mit anderen Worten: in der Sicht der Kirche hatte die goettliche Allmacht ein ebenso notwendiges wie reines Gebilde geschaffen und als Tageslicht fuer die Menschen eingesetzt.

Es bestand fuer das einfache Volk auch kein Grund an der Makellosigkeit der Sonne zu zweifeln. Zwar war immer wieder berichtet worden, dass man mit blossem Auge "Flecken" an der Sonne gesehen habe, doch diese wurden stets als vorueberziehende Teile erlaeutert. In allen Zeiten - noch lange nach der Entdeckung der Sonnenflecken - waere niemand auf die Idee gekommen, die Makellosigkeit der Sonne in Frage zu stellen. Wie wichtig die Reinheit der Sonne fuer die Kirche und sicher auch das Kirchenvolk war, zeigt das folgende Beispiel aus der Marienverehrung. In der Gnadenkapelle zu Bernried befindet sich eine schlichte Mariendarstellung von 1770, in der das folgende Gedicht zu lesen ist:

Maria weit thust du den Mon
an schoenheit yberwinden
weit heller bist du als die Son
an der kein Mackel z'finden.
Mariae Nam thut jederzeit
Selzame ding erwecken

den frommen bringt er trost und freud
den boesen forcht und schroeckhen.

Zwei Astronomen blicken durch ihr Fernrohr, wobei einer von ihnen zu Maria spricht: "Du bist makellos."

In der Marienverehrung spielte der Vergleich mit der Sonne eine bleibende Rolle. Die Makellosigkeit der Sonne war ebenso unangreifbar wie das Geheimnis der unbefleckten Empfaengnis. Die kirchliche Volkskunst hielt auch nach den neuzeitlichen Entdeckungen stets fest am Bild der makellosen Schoenheit von Sonne und Maria. Man sieht hieran, wie unbeeindruckt die Menschen von bestimmten Entdeckungen blieben, selbst als sich die neuen naturwissenschaftlichen      (besonders astronomischen) Erkenntnisse andeuteten und in der akademisch gebildeten Welt Eingang fanden. Doch dies ist eben der Punkt: Diese Erkenntnisse wurden vornehmlich in theologischen Kreisen diskutiert; eine Weitergabe an das Volk blieb aus. Insofern muss gesehen werden, dass von einem Bewusstseinswandel der Menschen ueberhaupt nicht gesprochen werden kann. Neuzeit heisst zumindest nicht Neuorientierung der breiten Volksmassen. Dies betrifft nicht nur den Bereich der Marienverehrung, sondern ebenso alle anderen Bereiche, soweit sie mit dem kirchlichen Glauben in Zusammenhang stehen.

Die Rolle der "Wunderzeychen"

Das Polarlicht ist eine physikalische Erscheinung der Hochatmosphaere, die in enger Beziehung zur Sonnenaktivitaet steht. Diese kurze Einschaetzung drueckt etwas aus, wovon Jahrhunderte lang in der Vergangenheit niemand etwas wusste, und was selbst heute noch nicht jeder weiss. Wie laesst es sich sonst erklaeren, dass immer noch bei gewaltigen (meist roten) Polarlichtern, die auch in mittleren Breiten zu sehen sind, oftmals die Feuerwehr gerufen wird? Dem himmlischen Geschehen steht also selbst der moderne Mensch gelegentlich fragend gegenueber. Und wieviel mehr muss man es dem mittelalterlich-neuzeitlichen Menschen zugestehen, dass er in ungewoehnlichen himmlischen Zeichen besondere Signale sah!

Das Problem der himmlischen Zeichen kann von verschiedener Warte aus betrachtet werden. Einmal ist da der theologische Hintergrund der damaligen Zeit mit seinen spezifischen historischen Umrissen. Mit der einbrechenden Reformation war es zu extremen Veraenderungen gekommen, die den einfachen Menschen in vieler Hinsicht ueberforderten. Es ist also kein Wunder, dass man sich im Sinne der Apokalypse in der Endzeit glaubte und die Wiederkehr Christi nur noch als eine Frage der Zeit ansah. Die zum Teil furchterregenden Schilderungen in der Apokalypse [Offenbarung des Johannes, das letzte Buch des Neuen Testaments - die Red.] fanden in gewisser Weise ihre Projektion am Himmel, wenn man z.B. einmal eine Interpretation von C.C. Jung (1958) heranzieht. Erfuellt von Angst um das eigene Leben, umgeben von ungeahnten Umwaelzungen fand sich der Mensch nicht mehr geborgen, er projizierte seine tief empfundene Angst sozusagen an den Himmel. Dort fanden sich immer wieder Ereignisse, die er nicht erklaeren, sondern nur empfinden konnte. Die Botschaft war dann stets dieselbe: Gott selbst war es, der die Endzeit einlaeutete, und die Zeichen waren Vorboten kommenden Unheils. Dies traf fuer alle Himmelsereignisse zu, die ausserhalb des normalen Geschehens auftraten: Meteore, ungewoehnliche Regenbogen, Polarlichter, Sonnen- und Mondfinsternisse, ja selbst ungewoehnliche Halo-Erscheinungen wurden umgedeutet und als Zeichen verstanden. [Halo = insbesondere Lichthof um Sonne und Mond, aber auch Flecken oder Streifen, die durch Brechung oder Spiegelung des Lichtes an den Eiskristallen in der Atmosphaere entstehen. - Die Red.]

Bei diesen Gegebenheiten war von einem "neuen Weltbild" in der Bevoelkerung nichts zu spueren. Die gleichzeitigen kriegerischen Ereignisse im Verlaufe der Reformation und der Folgezeit brachten fuer die Menschen ganz andere Probleme mit sich: "ihre leibsnarung - von daeglicher seiner arbeit und dem schweisz seines angesichts" war fuer sie von elementarer Bedeutung. Irgendwelche akademischen Diskussionen um ein neues Weltbild gingen ihnen ab, nicht nur, weil sie der lateinischen Sprache nicht maechtig waren und keine Schulbildung besassen, sondern weil ganz andere Sorgen ihr Leben bestimmten.

Ebenso wie das Erscheinen von Kometen stets das Aussergewoehnliche bedeutete, so waren auch alle anderen Himmelszeichen fuer die Menschen grundsaetzlich "Boten" - Boten der einbrechenden Endzeit oder des Ungluecks schlechthin. In ihrem aberglaeubischen Verstaendnis stand die Bevoelkerung (uebrigens aber auch die breite Gelehrtenwelt der damaligen Zeit!) diesen Himmelszeichen voellig hilflos gegenueber.

Seit der Erfindung der Buchdrueckerkunst wurden recht bald immer wieder Flugblaetter mit theologischer Thematik unter das Volk, gebracht, so auch Texte ueber die "Wunderzeychen", wovon einige Exemplare in verschiedener Aufmachung ueberliefert und fuer die Forschung verfuegbar sind. Darin wurde natuerlich keine moderne bildliche Darstellung der Polarlichter gegeben, sondern eher eine allegorische Umkleidung des eigentlichen Geschehens, wobei die einzelnen Formen (Strahlen, Flaechen, Krone usw.) in Form von Gestalten oder Tieren dargestellt wurden. Dies erscheint auch durchaus sinnvoll aus damaligen Sicht, wurden doch diese Erscheinungen als Auseinandersetzung, die sich am Himmel vollzog, gewertet.

Die weiteren historischen Ereignisse - Reformation, Gegenreforrnation, Dreissigjaehriger Krieg - trugen dazu bei, dass in breiten Bevoelkerungsschichten die alten aberglaeubischen Vorstellungen erhalten blieben. Jedenfalls fand eine reale Auseinandersetzung mit dem optisch Wahrgenommenen nicht statt. Bis weit in das 18. Jahrhundert hielt sich der Glaube an Wunderzeichen, oder zumindest entzogen sich Erscheinungen, die urploetzlich am Himmel stattfanden, jeglicher Erklaerung, ausser man ordnete sie Gottes Einwirken zu.

So gibt es auch kaum eine sinnvolle Deutung der Polarlichter aus jener Zeit, die etwa das Ereignis als der Atmosphaere zugehoerig beschreiben wuerden. Wenn also fuer jene Zeit von einem Erkenntnisfortschritt gesprochen wird, so betrifft dies nicht die allgemeine Bevoelkerung - sie blieb weitestgehend ausserhalb akademischen Diskussionen und verharrte in ihrem bisherigen Wissen oder besser Unwissen.

Fuer die Zeit der Reformation und Gegenreformation muss also gesehen werden, dass himmlische Ereignisse ihren bedrohlichen Charakter beibehielten. Die gewaltigen Umwaelzungen fuehrten zu einer Endzeit-Erwartung, die durch jedes ungewoehnliche Zeichen am Himmel noch unterstrichen wurde. Eine rationale Auseinandersetzung mit dem, was ihnen da in Bildern widerfuhr, konnte nicht stattfinden, da alle Voraussetzungen dafuer fehlten. So blieb das Ungewoehnliche am Hinmelszelt - ungeachtet all der Arbeiten eines Galilei, Copernicus, Kepler u.a. - im breiten Volke unbeachtet und unverstanden, erfuhr keinen Widerhall, aenderte nichts an den allgemeinen Befindlichkeiten. Darueber hinaus sollte nicht uebersehen werden, dass selbst in den einigermassen gebildeten Kreisen vielfach Unkenntnis ueber die Naturablaeufe vorherrschte.

Die Zeit zwischen 1500 und 1700 war gekennzeichnet durch das sporadische Wahrnehmen ungewoehnlicher Erscheinungen. Sie wurden in Bildern dargestellt, unter das Volk gebracht und bildeten den Gespraechsstoff der Tage. In die Zeit des 17. Jahrhunderts faellt noch ein eigenartiger Abschnitt, der in der Fachliteratur das "Maunder-Minimum" genannt wird. Eigentlich war aus der aelteren Literatur laengst bekannt, dass zwischen 1645 und 1710 offensichtlich weniger Polarlichtdaten vorliegen als aus anderen Zeitabschnitten. Dies koennte aus den historischen Umstaenden (Krieg, Zerstoerung von Kloestern und ihrer Bibliotheken) hinreichend verstanden wer- den. In der neueren Literatur wird jedoch gerne der Ausdruck "Maunder-Minimum" gebraucht nach dem englischen Astronomen Maunder, der besonders auf diesen Zeitabschnitt hinwies. Allerdings hat vor ihm bereits der deutsche Astronom Spoerer - und vor ihm andere - diesen Tatbestand beschrieben.

An sich ist diese Zeit der kargen Informationen nichts Ungewoehnliches, denn in jenen Tagen der Zerstoerung hatten die Menschen wahrlich anderes zu tun, als auf Polarlichter zu achten und diese zu registrieren. Die historischen Umstaende muessen gesehen werden, um zu verstehen, weshalb in bestimmten Zeiten weniger Polarlichter verzeichnet wurden als in anderen. Von einem Verlust der Kenntnis kann jedoch nicht gesprochen werden. Diese himmlischen Ereignisse hatten zeitweilig lediglich eine andere Wichtung bekommen. Die Erwartung "Komm, lieber juengster Tag!" schien sich ja in den Kriegswirren des 16. und 17. Jahrhunderts beinahe zu erfuellen. Die dazu noch beobachteten "grausigen Gesichte", die am Himmel erschienen, passten nur zu gut in diese Erwartungshaltung und wurden daher eher als selbstverstaendlich hingenommen.

Von einer geordneten wissenschaftlichen Arbeit kann fuer jene Zeit nicht gesprochen werden. Ausserdem war man nicht vorrangig an den Polarlichtern oder aehnlichen Erscheinungen interessiert, sondern vor allem an der Sonnenbeobachtung und Fragen zum Aufbau des Kosmos und der Gestalt der Erde. Also wir auch von seiten der forschenden Wissenschaft kein besonderes Interesse an der Aufklaerung der "erschroecklichen Wunderzeychen" vorhanden.

Die gewandelte Sichtweise

In der Zeit nach dem Dreissigjaehrigen Krieg, also nach 1648, kehrte das normale Leben zurueck. Im 17. Jahrhundert vollzogen sich trotz der politischen Wirren Akademie-Gruendungen und insgesamt kamen neue Fragestellungen auf. Etwa ab dem Ende des 17. Jahrhunderts finden sich auch vermehrt Meldungen von Polarlichtern, wobei in jene Zeit auch eines fiel, das die Menschen ueberall in Aufregung versetzen sollte. Von allen Polarlichtern, die im 18. Jahrhundert gesehen wurden, hat zweifelsohne das vom Maerz 1716 das groesste Aufsehen erregt. So schreibt denn auch Pilgram (1788): "Im Maerzen war das groesste Nordlicht neuerer Zeiten, welches durch ganz Europa gesehen wurde."

Entsprechend war die Wirkung auf die Menschen, die diesem Ereignis voellig unvorbereitet gegenueberstanden. War doch gerade nach all den Kriegswirren eine gewisse Normalitaet eingetreten, schien die Endzeit ausgeblieben zu sein und jetzt dies! Ein gewaltiges Nordlicht, das in ganz Europa sichtbar wurde, erschreckte das "gemeine Volk" allenthalben. Bei diesem Ereignis macht sich dann auch erstmals massiv die Volksseele Luft, und man tritt an die gelehrte Welt heran und verlangt Auskunft, was es mit dieser Erscheinung auf sich habe.

In Halle wurde daraufhin eine oeffentliche Lesung fuer das Publikum abgehalten, welches Auskunft begehrte, ja verlangte, die Wissenschaft moege eine Einordnung des Geschehens liefern. Das war eine bisher nie dagewesene Situation. Das Ereignis wurde nicht mehr erschauernd hingenommen. sondern es wurde offensiv verlangt, darueber Naeheres zu erfahren. In Halle traf der "Volkszorn", so kann man das durchaus nennen, den Philosophen Christian Wolff (1679-1754). Seine "lectione publica" leitete er mit folgenden Worten ein:

"Als naechst verwichenen Dienstag nach Oculi den 17. Martii dieses jetzt lauffenden 1716. Jahres des Abends einige Stunden bey uns in Halle ein ungewoehnliches Licht gegen Norden am Himmel erschienen (welches / wie man bald hernach erfahren / auch an vielen anderen Orten / die in einem von Halle nicht weit entferneten parallelo gelegen / wahrgenommen worden) und viele in der Erkaenntniss der Natur Unerfahrene in grosse Bestuerzung versetzet; so hat man sich vielfaeltig erkundiget, was ich von diesem sonderbahren phaenomeno hielte und absonderlich zu wissen begehret / ob man mit einigem Grunde ihm eine gewisse Deutung zueignen koenne. Da ich nun verspueret / dass man diesem Stuecke ein Vertrauen zu mir gefasset / und dabey erwogen / dass ich ... , bestellet bin das Buch der Natur zu erklaeren; so entschloss ich mich endlich in einer Lectione publica den 24. Martii meine Gedancken davon zu eroeffnen / welcher auch eine Menge der Zuhoerer beygewohnet / ...... "

Das Neue hieran ist, dass ein Wissenschaftler dem Volk eine Vorlesung hielt, um die Natur zu erklaeren. Zwei Dinge spielen hier hinein: einmal das Interesse zahlreicher Menschen, die dem Ereignis hilflos gegenueberstanden, gleichwohl aber eine Erklaerung verlangten und schliesslich die Hoffnung, dass die Wissenschaft eine Erklaerung wuerde geben koennen. Damit ist das bisherige Bild des Menschen, der aengstlich und demuetig die Himmelserscheinungen betrachtet, gewandelt. An die Steile der Furcht tritt das Interesse, an die Stelle der Vermutung der Wunsch nach Erklaerung. Das ist nun tatsaechlich in dieser Form etwas Neues, was sich hier in Halle im Jahre 1716 vollzog.

In seinem Vortrag macht Wolff nochmals deutlich - und dies ist ein interessanter neuer Ansatz des Selbstverstaendnisses in der Wissenschaft - dass es nun seines Amtes sei, die "natuerlichen Wuerckungen und Begebenheiten der Natur zu erklaeren, und von diesem besonderen phaenomeno sich bereits verschiedene Gedancken hin und wieder bloss gegeben; so ist noethig, dass mit wenigem untersuche, was vor ein Urtheil von dergleichen Begebenheiten muesse gefaellet werden."

Bereits in einem oeffentlichen Anschlag hatte Wolff zuvor deutlich gemacht, dass er folgende Fragen eroertern wolle:

1. Ob unser phaenomenon etwas sonderbahres sey, oder ob es nicht vielmehr bereits vor diesem an anderen Orten sich sehen lassen und von sorgfaeltigen Observatoribus angemercket worden;
2. Ob es unter die Zahl der Meteororum zu rechnen sey, wie sie die Naturkuendiger zu nennen pflegen, und, wenn man hierauf mit Ja antworten soll, in welche Classe der Meteororuin es muesse referiret werden.
3. Zum dritten habe ich versprochen, die Ursachen mir kurtzem zu untersuchen, woher dergleichen sonderbahre phaenomena in der Lufft entstehen und
4. habe ich auch etwas beruehren wollen von denen Wuerckungen, ingleichen von der Bedeutung solcher phaenomenorum.

Wolff geht diesen Fragen nach. Er kommt dabei letztlich zu der Ansicht, dass es sich bei der Lichterscheinung nicht um ein Gericht Gottes handelt, sondern vielmehr um eine Erscheinung, die der Erdatmosphaere angehoert. Die genaue Formulierung der Erklaerung ist an sich nicht wichtig. Eine nach heutigen Massstaeben einzuordnende physikalische Erklaerung hat er nicht geliefert. Entscheidend bei Wolffs Lesung ist jedoch, dass eine neue Art des Umganges mit der Natur in der Oeffentlichkeit stattfindet. Man sieht einen Professor, der dem Volk das "Buch der Natur" erklaert, weil es eben seine Aufgabe ist, dies zu tun. Damit beginnt eine andere Art des Umganges mit der Natur und ihren Phaenomenen, aber auch eine andere Sichtweise des Volkes. Nicht mehr gebannt und gefangen in der eigenen Angst vielmehr aufgeschlossen, etwas zu erfahren ueber das, was einem da widerfaehrt, ist jetzt der Neuansatz. Der Umgang mit dem Himmel ist ein anderer geworden. So gesehen steht das ungewoehnliche Polarlicht vom 17. Maerz 1716 als Neubeginn in der Naturauffassung und leitet ueber in eine rationalere Umgehensweise mit dem, was sich dem menschlichen Auge darbietet.

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